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Eine Polizei demokratisiert sich selbst
Diskussionskommando Berlin
Interne Vorbereitungen
Das Ziel unseres Einsatzauftrages war immer die De-Eskalation, Herunterfahren von Emotionen durch Miteinander-
Reden, um Gewalttaten zu verhindern. Bald gab es fast keine Veranstaltung der KPDML (Kommunistische Partei
Deutschlands, Marx Lenin) oder im Audi Max der FU mehr, bei der nicht einige von uns in Zivil dabei waren. Hierbei
wurden keine Personen observiert, um sie später ggf. zur Rechenschaft zu ziehen, geschweige denn, eine straf-
rechtliche Verfolgung einzuleiten, sondern wir wollten ihre Taktik kennenlernen und über weiteres Vorgehen in-
formiert sein. Beliebt war die kurzfristige Änderung eines Versammlungsortes, um die Einsatzplanung der Polizei ins
Leere laufen zu lassen.
Anhand eines Planes konnten wir uns die passende Veranstaltung aussuchen, die Teilnahme war für jeden freiwillig.
Leider gab es dabei auch Verletzte unter den Kollegen, wenn sie erkannt wurden. Das neue Einsatzkonzept erfor-
derte natürlich eine bis dahin undenkbare Vorbereitung. Marxismus-Leninismus gehörte nicht zur Standard-
ausbildung der Berliner Polizei. Die APO hatte eine neue Sprache entwickelt. Ihr "Soziologendeutsch" mischten sie
mit ihrer Alltagssprache. Sie verwendeten Begriffe wie z. B. "Freiheit", gaben ihnen aber einen anderen Inhalt.
Ständig wurde gefragt: "Frei sein für etwas oder frei sein von etwas"? Oder, bevor überhaupt zum Thema
etwas gesagt wurde, hieß es: "Das mußt Du erst einmal definieren: Was ist Freiheit?" Hohle Phrasen ohne
Hintergrundwissen zeichneten die Mitläufer aus. Die Beamten der Gruppe 47 mußten eine neue Sprache
lernen, um mit den Demonstranten überhaupt sprechen zu können. Auch die veränderten Inhalte der
Wörter mußten von uns erst verstanden werden, damit wir nicht aneinander vorbeiredeten.
Es wurden Dozenten engagiert, die aus der "linken Ecke" der Freien Universität kamen. Hans-Ulrich
Luther, Politologe und Experte für den Nahen Osten und Asien. Siegfried Schubenz von der Psycho-
logischen Fakultät der Freien Universität Berlin und auch erster Berliner Polizeipsychologe. Klaus Harms,
evangelischer Polizeipfarrer, kümmerte sich um Ethik und Moral und natürlich um unser Seelenheil, wenn die Belastung einmal zuviel
wurde. Er war bei einigen Einsätzen live dabei! Einige werden sich noch an seinen "Hauskreis" erinnern, bei dem wir in gemütlicher
Runde bei ihm zu Hause saßen und die Probleme der Polizei und der übrigen Welt lösten.
Allmählich paßten wir uns unserem Gegenüber auch äußerlich an. Die Haare wurden länger, die Kleidung wesentlich legerer. Auch
unsere Sprache veränderte sich. Die Art, an Probleme heranzugehen und gesellschaftliche Zusammenhänge zu beurteilen, wandelte
sich grundlegend. Es gab nicht mehr nur "Recht und Ordnung", sondern Zwischentöne und Spielarten von gesellschaftlichen Zu-
sammenhängen. Unser Gegenüber war nicht mehr nur ein "Störer", sondern ein Mensch mit dem wir Polizisten reden wollten, um
Randale zu vermeiden. Der "sprechende Polizist", bis dahin bei geschlossenen Einsätzen per Dienstanweisung nicht erlaubt, verun-
sicherte die Außerparlamentarische Opposition in höchstem Maße.